Die moderne internationale Rechtswissenschaft

Die moderne internationale Rechtswissenschaft

Die moderne internationale Rechtswissenschaft löst die ehemals nationalstaatlich geschlossenen Rechtssysteme ab, nachdem diese im Zuge der Wettbewerbs- und Machtentwicklungen der wirtschaftlichen Globalisierung seit 1989/90 aufgebrochen sind. Darauf machte 2012 der Wissenschaftsrat in Deutschland aufmerksam.

„Die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts, vor allem durch das Aufbrechen der nationalstaatlich geschlossenen Rechtssysteme (in denen alle großen Kodifikationsleistungen in Deutschland, vom BGB bis zur Kodifizierung der Grundrechte im Grundgesetz, erbracht worden sind), verlangt eine Methodik, die internationale Perspektiven reflektiert und kritisch integriert.

Obwohl der Gegenstand der Rechtswissenschaft veränderlich ist, gibt es rechtsprinzipielle und dogmatische Erkenntnisse mit dauerhaftem Geltungsanspruch. So bleiben bestimmte Grundprinzipien, etwa zum Vertragsschluss, zur Zurechnung von Handlungsfolgen, zur Struktur und Organisation öffentlicher Gewalt oder zu den Grundrechten der Menschen verbindliche Leitlinien für die Auslegung und Gestaltung des Rechts. Eine wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht darin, durch kontinuierliche Pflege unhintergehbare Prinzipien wie den Eigenwert des Menschen, seiner Würde, seiner Autonomie-, Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzusichern.“ (Wissenschaftsrat: Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen. Hamburg 2012, S. 29 www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2558-12.pdf )

Nachdem die nationalstaatlich geschlossenen Rechtssysteme aufgebrochen sind, ist außer den Vereinten Nationen keine Institution von internationaler Anerkennung und Legitimation erkennbar, die überall für Rechtssicherheit sorgen kann. Deshalb gibt es kaum eine wichtigere Aufgabe, als die Organisationen der Vereinten Nationen aktiv zu unterstützen, damit sie wirksam zu weltweiter Gerechtigkeit und friedlicher Zusammenarbeit auf der Erde beitragen können.

Tatsächlich ist „ihre“ Rechtsordnung im Kern keine andere als diejenige, die bereits in der Hebräischen Bibel in der Schöpfungsgeschichte (Genesis 1, 26 ff.) und im Buch Mose im Zusammenhang mit den „Zehn Geboten“ (Exodus 20) sowie kultischen und sozialen Hinweisen zu gesundem, erfülltem Leben (Levitikus 19, 11-18) formuliert worden war. Diese Rechtsordnung hat insbesondere in Großbritannien eine lange Tradition. Sie prägte die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die Rechtsvorstellungen der Aufklärung, die maßgeblich zur Französischen Revolution beigetragen hatten sowie das deutsche Grundgesetz. Damit sinngemäß übereinstimmende Rechtsordnungen entstanden in Unabhängigkeit von dieser biblischen Tradition in anderen Regionen der Erde, etwa auf dem amerikanischen Festland und in den Hochkulturen Ostasiens, so in Indien und China.

Die moderne Rechtswissenschaft ist als eine funktional (also naturwissenschaftlich-verfahrenstechnologisch) vorgehende Disziplin zu unterscheiden von derjenigen traditionellen Rechtslehre, die auf philosophischen, geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Methoden beruht. Im Abschnitt B.I Rechtswissenschaft. Definition – Erkenntnisbedingungen – Funktionen hatte der Wissenschaftsrat formuliert:

„Das Recht ist in der Moderne ein zentrales gesellschaftliches Steuerungsmedium. Seine wesentlichen Funktionen lassen sich umschreiben als (1) Konfliktregelung, (2) Verhaltenslenkung und (3) Verwirklichung von Leitideen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und Solidarität.
(1) In fundamentaler Weise und von alters her dient Recht der Streitvermeidung und Streitschlichtung und dadurch der Friedenssicherung. Rechtshistorisch gesehen diente das für alle geltende Recht in Verbindung mit dem staatlichen Gewaltmonopol der Zurückdrängung personaler Eigenmacht in Gestalt von Rache und Selbstjustiz sowie der Überwindung der Fehde. Seinem Anspruch nach sorgt es für eine gleiche und damit gerechte Behandlung der Rechtsunterworfenen.“
„Wenn die Rechtswissenschaft geschichtswissenschaftliche, linguistische, philosophische, sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftliche, psychologische, kriminologische und weitere Perspektiven integriert, schöpft sie aus dem Methodenrepertoire der entsprechenden Bezugswissenschaften. Auch dadurch richtet sie unterschiedliche Erkenntnisperspektiven auf ihren Gegenstand und entfaltet so die Vielzahl der Bedeutungsdimensionen des Rechts (Entstehungs- und Geltungsbedingungen, rechtliche Durchdringung vielfältiger Lebensbereiche und sozialer Sphären, Tragfähigkeit und Belastbarkeit von Normen, Fragen der Gerechtigkeit usw.). Die Rechtswissenschaft kann deshalb auf interdisziplinäre Bezüge nicht verzichten.“ (Wissenschaftsrat: Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen. Hamburg 2012, S. 25 f. www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2558-12.pdf )

Die Zuordnung der Rechtswissenschaft zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen ergibt sich aus dem Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft: Sie beschäftigt sich mit konkreten Gegebenheiten und Tatsachen des Lebens, mit dem Schutz des Lebens sowie mit der Verbesserung der Lebensqualität über sinnvolles, konstruktives menschliches Vorgehen und Handeln. Innerhalb dieses Gegenstandsbereichs bildet die Beschäftigung mit Texten, mit deren Sinn, Verstehen, Erklären und Formulieren, lediglich ein Teilgebiet. Im Kontext der Naturwissenschaftlichkeit wird jegliche Auslegung (Exegese, Interpretation) als eine Form der Hypothesenbildung betrachtet, die sachlich zutreffend oder auch verfehlt sein kann. Auslegungen bzw. Theorien bedürfen hier stets der Stützung durch zuverlässige Tatsachenbelege und der Verwendung einer Objektivität gewährleistenden wissenschaftlichen Methodologie. Dazu betont der Wissenschaftsrat:

„Vor allem aufgrund ihres Anwendungsbezugs ist die juristische Interpretationsmethode nicht identisch mit der Textinterpretation anderer Disziplinen, etwa der Literaturwissenschaft.“ (Wissenschaftsrat: Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen. Hamburg 2012, S. 31 www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2558-12.pdf )

Traditionell wird die Philosophie als das wichtigste Grundlagenfach der Rechtswissenschaft angesehen. Dabei ist zu beachten, dass die Philosophie mit der in ihr vorherrschenden hermeneutischen Methodologie hier nur sehr eingeschränkt brauchbar und nützlich sein kann. Denn das Denken und Erkennen, auf das sich die Philosophie konzentriert, wird der Rechtswissenschaft als einem Fach, in dem es in erster Linie um zweckmäßiges menschliches Handeln geht, zu wenig gerecht: Das Denken und das Erkennen liefern lediglich Teilvoraussetzungen des Handelns, wobei vielfach offen bleibt, ob und inwiefern diese überhaupt handlungsbestimmend wirksam sind und werden. Offensichtlich kann Handeln auch ohne Denken und Erkennen erfolgen. Vielfach sind zu Gewohnheiten gewordenes Vorgehen sowie Fühlen, Urteilen, Wollen, Meinen, Hoffen und Glauben in deutlich stärkerem Ausmaß direkt handlungsbestimmend. Ohne die gründliche Berücksichtigung der Ursachen, Mittel und Ziele menschlichen Handelns erfolgt Rechtswissenschaft ohne hinlänglich brauchbare Basis.

Heraklit und Leibniz gehörten, neben Sokrates, Archimedes, Jesus von Nazareth, Galilei und etlichen anderen, zu denjenigen Weisheitslehrern, die sich insbesondere der Aufgabe gewidmet hatten, die Gegebenheiten in der Natur und im gesamten Kosmos zu studieren und zu ordnen. Sie wollten nicht nur die Eigenheiten und Handlungsweisen von Menschen, sondern auch die Gesetzmäßigkeiten erforschen und erkennen, die allem Geschehen in der Welt, im Kosmos, im Universum zugrunde liegen. Infolge dessen waren diese Personen nicht nur Philosophen, also Denkende und Erkennende, sondern außerdem auch naturwissenschaftlich-handlungspraktisch ausgerichtet gewesen. Seit Anbeginn des menschlichen Lebens hatte es stets weitgehende Überschneidungen dieser naturwissenschaftlich-handlungspraktisch ausgerichteten Menschen mit religiösen Handlungsorientierungen gegeben. Das ergibt sich daraus, dass Religionen, so wie juristische Instanzen (Richter), Menschen mitteilen, wie sie handeln sollten, ebenso wie das auch juristische Regelungen (Gesetze) tun. Jesus von Nazareth war diesbezüglich ein besonders einflussreicher Lehrer gewesen.

Die Biologie ist die Naturwissenschaft vom Leben in allen seinen organischen Formen, also der physikalisch-chemischen Reaktionen und Verbindungen, die allem Lebendigen zugrunde liegen sowie von deren Dynamik (Entwicklung) hin zu den vielfältigen Eigenarten von Mineralien, Pflanzen und Tieren, auch Menschen. Zur Biologie gehört untrennbar die Umwelt (Ökologie).

Die experimentell-naturwissenschaftlich bzw. empirisch forschende Psychologie widmet sich dem Leben der biologischen Gattung Homo sapiens als einer speziellen Form der Säugetiere. Sie befasst sich mit dem menschlichen Wahrnehmen, Erkennen, Erleben und Handeln sowie mit deren Zusammenhängen untereinander auf den Grundlagen körperlicher (physiologischer, biopsychologischer) Gegebenheiten und Prozesse (Dynamiken). Sie gehört zu den modernsten Wissenschaften und entwickelte sich etwa seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu ihren Pionieren zählen die Physiologen Wilhelm Wundt (1832-1920) und Iwan Pawlow (1849-1936). In den vergangenen Jahrzehnten gab es in der physiologischen Forschung, speziell in den Neuwissenschaften, im Hinblick auf die Nerven- und Gehirnfunktionen beeindruckende Fortschritte. Die empirisch forschende Psychologie entstand und beruht maßgeblich auf der Arbeit hervorragender Ärzte.

Aus heutiger wissenschaftslogischer (systematischer) Sicht sind alle Wissenschaften Teilgebiete der naturwissenschaftlichen Psychologie, denn jede wissenschaftliche Tätigkeit gehört zum menschlichen Wahrnehmen, Erkennen, Erleben und Handeln. Aus dieser wissenschaftslogischen Sicht ist selbstverständlich auch die Rechtswissenschaft ein Teilgebiet der Psychologie: In der Rechtswissenschaft als Naturwissenschaft geht es um das Erstellen von Regelungen (Verfahrenstechnologien), die zweckmäßig sind, um Menschen sicheres und glückliches Zusammenleben zu ermöglichen. Um die dazu erforderlichen Voraussetzungen herzustellen, spielen pädagogische Maßnahmen und Befunde der Erziehungs- und Bildungswissenschaft eine herausragende Rolle: Wie kann man erfolgreich Menschen befähigen, gut für sich und für andere zu sorgen? Außerdem sind hier die Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaften zu berücksichtigen.

Der Psychologie als empirischer, experimenteller Naturwissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben fällt im Hinblick auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG) eine Schlüsselfunktion zu:

„Wenn man von dem gesellschaftlichen Auftrag einer Wissenschaft sprechen kann, so liegt jener der Psychologie in der Verpflichtung zu dem unermüdlichen Hinweis auf die Komplexität und Differenziertheit menschlichen Verhaltens und Erlebens. Angesichts der Leichtfertigkeit, mit der viele Repräsentanten unserer Gesellschaftsordnung psychologische Probleme zu sehen und zu lösen gewohnt sind, gehören zu der Erfüllung dieser Aufgabe sowohl Mut als auch Sachkenntnis.” (Hans Thomae, Hubert Feger.: Einführung in die Psychologie 7, Akad. Verlagsges.1976, S. 4.)

Diese Formulierung stammt von einem Entwicklungspsychologen (Thomae) und einem Sozialpsychologen (Feger). Diese beiden Psychologie-Fachgebiete widmen sich unter anderem der Erforschung der praktischen Auswirkungen rechtlicher und politischer Vorgehensweisen sowie der Entwicklung konstruktiver Alternativen.

Im Blick auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde sind drei Fragen zentral:
1. Wie wird mit Menschen umgegangen, die in einer Weise handeln, die anderen Menschen als nicht akzeptabel erscheint?
2. Inwiefern ist angeblich nicht akzeptables, also auf Ablehnung stoßendes Handeln, tatsächlich problematisch, gefährlich, korrekturbedürftig und praktisch korrigierbar?
3. Wie kann und sollte man angesichts solchen Handelns sinnvollerweise vorgehen?

Erste experimentelle Untersuchungen zu diesen Fragen hatte der russische Arzt Ivan Pawlow mit Hunden durchgeführt, deren Verhalten er über Lernprozesse veränderte. Zu seinen Schülern gehörte beispielsweise der Physiologe und Pazifist Georg Friedrich Nicolai, welcher verhaltensphysiologische Argumente Pawlows in seinen, den Krieg verurteilenden, Werken heranzog. (Ingrid Kästner: Der deutsche Arzt und Pazifist Georg Friedrich Nicolai (1874–1964) als Schüler des russischen Physiologen Ivan Petrovič Pavlov (1849–1936). Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 24, 2005, S. 261–267.) Noch während des Ersten Weltkriegs erschien in der Schweiz sein Buch Die Biologie des Krieges. Es trat für einen dauerhaften Frieden zwischen den Nationen ein und wurde in Europa schlagartig bekannt und diskutiert.

Angesichts inzwischen gesicherter Erkenntnisse und Erfahrungen, insbesondere aus dem Bereich der Psychologie des Lehrens und Lernens, ist es heute offensichtlich, dass unter den weltweit führenden Repräsentanten in der Politik und in der Wirtschaft sowie im Rechts- und Bildungswesen allzu viele sind, die mit anderen Menschen und mit deren Handeln in einer Weise umgehen, die Sachverstand und Vernunft vermissen lässt. Das gilt auch dort, wo es um sogenanntes strafbares Handeln geht bzw. um das Strafrecht sowie um richterliches Urteilen. Hier sind gravierende Korrekturen (Reformen) geboten, von der untersten Ebene bis hinauf in die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag.

Allzu häufig beachten und befolgen sogar die Mitarbeiter in Einrichtungen, die zum Schutz der Menschen- und Grundrechte geschaffen worden sind, von sich aus nicht hinreichend sorgfältig die Menschen- und Grundrechte: Gemäß den Verträgen von Maastricht (1993) und Lissabon (2009) sind die EU Institutionen verpflichtet, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren. Es eignet sich dazu, alle gegenwärtigen Probleme in Europa demokratiegemäß und zweckmäßig zu bewältigen. Die mangelhafte Erfüllung dieser Pflicht mahnte zum Beispiel der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und Bundespräsident Roman Herzog an. Seine Einschätzung fiel 2014 vernichtend aus:

„Solche weitgefassten Prinzipien funktionieren dann nicht, wenn sie in jedem einzelnen Fall erst vor Gericht eingeklagt werden müssen und das zuständige Gericht, hier also der Europäische Gerichtshof, zu ihrer Durchsetzung auch keine große Lust verspürt.“ (Roman Herzog: „Europa neu erfinden – Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie“ Siedler Verlag 2014, S. 135 f.)

Der naturwissenschaftlichen Rechtswissenschaft stehen wirksame Methoden zur Verfügung, um die mangelhafte Beachtung und Befolgung rechtsstaatlicher Prinzipien eindeutig nachzuweisen und um hier zu konstruktiven Korrekturen beizutragen. Zu ihren Grundlagenwissenschaften gehört insbesondere die empirisch-experimentelle Sozialpsychologie. (Belege hierzu siehe: Thomas Kahl: Die besten Jahre liegen noch vor uns. Die Menschenrechte als Basis weltweiter Gerechtigkeit und friedlicher Zusammenarbeit im Sinne der Vereinten Nationen. Berliner Wissenschafts-Verlag BWV 2017, Abschnitt 1.2.3 „Die Position der Rechtswissenschaft in der modernen Ordnung der Wissenschaften“)

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